"Studie Grün"
Version vom 30.05.1938
1. Politische Voraussetzungen.
Es ist mein unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen. Den politisch und militärisch geeigneten Zeitpunkt abzuwarten oder herbeizuführen, ist Sache der politischen Führung.
Eine unabwendbare Entwicklung der Zustände innerhalb der Tschechoslowakei oder sonstige politische Ereignisse in Europa, die eine überraschend günstige, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit schaffen, können mich zu frühzeitigem Handeln veranlassen. Die richtige Wahl und entschlossene Ausnützung eines günstigen Augenblicks ist die sicherste Gewähr für den Erfolg. Dementsprechend sind die Vorbereitungen unverzüglich zu treffen.
2. Politische Möglichkeiten für den Beginn der Aktion.
Als Voraussetzung für den beabsichtigten Überfall sind notwendig:
a) ein geeigneter äußerer Anlaß und damit
b) eine genügende politische Rechtfertigung,
c) ein für den Gegner unerwartetes Handeln, das ihn in einem möglichst geringen Bereitschaftsgrad trifft. Militärisch und politisch am günstigsten ist blitzschnelles Handeln auf Grund eines Zwischenfalls, durch den Deutschland in unerträglicher Weise provoziert wurde und der wenigstens zu einem Teil der Weltöffentlichkeit gegenüber die moralische Berechtigung zu militärischen Maßnahmen gibt.
Aber auch eine dem Krieg vorausgehende Zeit diplomatischer Spannungen muß durch plötzliches, dem Zeitpunkt und dem Umfang nach überraschendes Handeln unserseits ihren Abschluß finden, bevor der Gegner sich einen nicht mehr einzuholenden Vorsprung in der militärischen Bereitschaft sichert.
3. Folgerungen für die Vorbereitung des Falles "Grün".
a) Für den Waffenkrieg kommt es darauf an, das Moment der Überraschung als wichtigsten Faktor des Sieges durch entsprechende Bereitschaftsmaßnahmen schon in Frieden und durch einen unerwartet schnellen Ablauf der Aktion in höchstem Maße auszunutzen. Dadurch muß schon in den ersten 2 bis 3 Tagen eine Lage geschaffen werden, die interventionslüsternen gegnerischen Staaten die Aussichtslosigkeit der tschechischen militärischen Lage vor Augen führt sowie den Staaten, die territoriale Ansprüche an die Tschechoslowakei haben, einen Anreiz zum sofortigen Eingreifen gegen die Tschechoslowakei gibt. In diesem Falle ist mit dem Eingreifen Ungarns und Polens gegen die Tschechoslowakei zu rechnen, insbesondere dann, wenn durch die eindeutige Haltung Italiens an unserer Seite Frankreich sich scheut, zum mindesten aber zögert, durch sein Eingreifen gegen Deutschland einen europäischen Krieg zu entfesseln. Versuche Rußlands, die Tschechoslowakei vornehmlich militärisch durch die Luftwaffe zu unterstützen, sind aller Voraussicht nach zu erwarten. Werden in den ersten Tagen greifbare Erfolge durch die Erdoperationen nicht erzielt, so tritt mit Sicherheit eine europäische Krise ein. Diese Erkenntnis muß den Führern aller Grade den Impuls zu entschlossenem und kühnem Handeln geben.
b) Der Propagandakrieg muß einerseits die Tschechei durch Drohungen einschüchtern und ihre Widerstandskraft zermürben, andererseits den nationalen Volksgruppen Anweisungen zur Unterstützung des Waffenkrieges geben und die Neutralen in unsrem Sinne beeinflussen. Nähere Anweisungen und die Bestimmung des Zeitpunktes behalte ich mir vor.
4. Aufgaben der Wehrmacht.
Die Vorbereitungen der Wehrmacht sind auf folgender Grundlage zu treffen:
a) Die Masse aller Kräfte muß gegen die Tschechoslowakei angesetzt werden.
b) Für den Westen ist ein Mindestmaß an Kräften als etwa notwendig werdende Rückendeckung vorzusehen; die übrigen Grenzen im Osten gegen Polen und Litauen sind nur zu sichern, im Süden zu beobachten.
c) Die beschleunigt verwendbaren Teile des Heeres müssen schnell und entschlossen die Grenzbefestigungen bezwingen und in der Gewißheit, daß die Masse des mobilen Heeres so rasch wie möglich nachgeführt wird, in die Tschechoslowakei mit größter Kühnheit einbrechen.
Die Vorbereitungen hierfür sind so zu treffen und zeitmäßig abzustimmen, daß die beschleunigt verwendbaren Teile des Heeres gleichzeitig mit dem Einflug der Luftwaffe die Grenze zu festgesetzter Stunde überschreiten, noch bevor unsere Mobilmachung vom Gegner erkannt sein kann.
Hierfür ist eine Zeittafel zwischen Heer und Luftwaffe unter Beteiligung des OKW festzulegen und mir zur Genehmigung vorzulegen.
5. Aufträge für die Wehrmachtsteile.
a) Heer.
Durch den unvermeidlichen Zeitbedarf für die Eisenbahntransporte der Masse des Feldheeres darf der Grundgedanke des überraschenden Überfalls auf die Tschechoslowakei nicht gefährdet werden oder die schnellere Einsatzbereitschaft der Luftwaffe unausgenutzt bleiben. Es kommt deshalb für das Heer zunächst darauf an, daß möglichst viele Angriffskolonnen mit dem Überfall der Luftwaffe gleichzeitig angesetzt werden.
Diese Angriffskolonnen müssen ihrer jeweiligen Aufgabe entsprechend zusammengesetzt aus Truppen gebildet werden, die durch ihre Grenznähe oder durch Motorisierung und durch besondere Bereitschaftsmaßnahmen schnell verwendbar sind.
Zweck dieser Vorstöße muß sein, an zahlreichen Stellen und operativ günstigen Richtungen in die tschechischen Befestigungslinien einzubrechen, sie zu durchstoßen oder von rückwärts zu Fall zu bringen. Für den Erfolg wird die Zusammenarbeit mit der sudetendeutschen Grenzbevölkerung, Überläufern aus der tschechoslowakischen Armee, Fallschirmspringern oder Luftlandetruppen und den Organen des Sabotagedienstes von Bedeutung sein.
Die Masse des Heeres hat die Aufgabe, den tschechischen Verteidigungsplan zunichte zu machen, das tschechische Heer am Ausweichen in die Slowakei zu hindern, zur Schlacht zu stellen, zu schlagen und Böhmen und Mähren rasch in Besitz zu nehmen. Hierzu ist mit möglichst starken motorisierten und Panzerverbänden unter Ausnutzung der ersten Erfolge der Angriffskolonnen und der Wirkung der Luftwaffe in das Herz der Tschechoslowakei vorzustoßen.
Die für den W e s t e n vorgesehene Rückendeckung muß zahlen- und wertmäßig auf ein Maß beschränkt werden, das mit dem derzeitigen Stand der Befestigungen in Einklang steht.
Ob die hierfür bestimmten Verbände sofort an die Westgrenze gefahren oder zunächst zurückgehalten werden, muß meinem besonderen Befehl vorbehalten bleiben.
Es müssen jedoch Vorkehrungen getroffen sein, die es ermöglichen, Sicherungen auch noch während des Aufmarsches "Grün" an die Westgrenze zu bringen. Unabhängig davon ist eine erste Sicherheitsbesatzung aus den z. Z. zum Festungsbau eingesetzten Pionieren und Formationen des Arbeitsdienstes zu improvisieren.
Die übrigen Grenzen sowie Ostpreußen sind nur schwach zu sichern. Je nach der politischen Lage muß aber mit dem Abtransport eines Teiles oder der Masse der aktiven Kräfte Ostpreußens auf dem Seeweg in das Reich gerechnet werden.
b) Luftwaffe.
Die Luftwaffe ist, unter Belassung eines Mindestmaßes an Verteidigungskräften im Westen, mit der Masse überfallartig gegen die Tschechoslowakei einzusetzen. Die Grenze ist gleichzeitig mit dem Überschreiten der Grenze durch die ersten Teile des Heeres zu über-fliegen (s. Ziffer 5 a). W i c h t i g s t e Aufgabe der Luftwaffe ist die Vernichtung der tschechischen Luftwaffe und ihrer Versorgungsbasis in kürzester Frist, um deren Einsatz und gegebenenfalls den russischer und französischer Luftkräfte gegen den Aufmarsch und Einbruch des deutschen Heeres sowie gegen den deutschen Lebensraum auszuschalten.
Daneben kann die Lähmung der Mobilmachung, der Staats- und Wehrmachtsführung sowie die Verzögerung des tschechischen Heeresaufmarsches durch Angriffe auf Verkehrsanlagen, Mob- und Regierungszentren von wesentlicher Bedeutung für die Angriffserfolge des Heeres werden. Dort, wo im Grenzgebiet stärkere tschechische Heeres-teile oder die Tiefe des Verteidigungssystems den raschen Durchbruchserfolg des deutschen Erdangriffs in Frage stellen, ist der Einsatz ausreichender Fliegerkampfkräfte hiergegen sicherzustellen.
Die tschechischen Industrieanlagen sind, soweit es der Operationsverlauf irgend gestattet, zu schonen.
Vergeltungsangriffe gegen die Bevölkerung unterliegen meiner Genehmigung.
Schwerpunkte der Luftverteidigung sind über Berlin, dem mitteldeutschen Industriegebiet und dem Ruhrgebiet zu bilden und unauffällig schon jetzt allmählich vorzubereiten.
c) Kriegsmarine.
Die Kriegsmarine beteiligt sich durch den Einsatz der Donauflottille an den Operationen des Heeres. Die Flottille tritt hierzu unter den Befehl des Ob. d. H.
Hinsichtlich der Seekriegsführung sind zunächst nur die Maßnahmen zu treffen, die zur vorsorglichen Sicherung der Nord- und Ostsee gegen ein überraschendes Eingreifen anderer Staaten in den Konflikt geboten erscheinen. Diese Maßnahmen haben sich auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Ihre Unauffälligkeit muß gewährleistet sein. Es kommt dabei entscheidend darauf an, jegliche Handlungen zu vermeiden, die die politische Haltung der europäischen Großmächte ungünstig beeinflussen könnten.
6. Aufgaben der Wehrwirtschaft.
Wehrwirtschaftlich kommt es darauf an, auf dem Gebiet der Rüstungswirtschaft sofort durch erhöhte Bevorratung eine Höchstentfaltung der Kräfte zu ermöglichen.
Im Verlauf der Operationen ist es wertvoll, durch schnelle Erkundung und Wiederingangsetzung wichtiger Betriebe möglichst bald zur Gesamtstärkung der wehrwirtschaftlichen Kraft beizutragen.
Aus diesem Grund kann Schonung der tschechischen Industrie- und Werkanlagen - soweit die militärischen Operationen es gestatten für uns ausschlaggebende Bedeutung haben.
7. Alle Vorbereitungen für Sabotage und Insurgierung trifft das OKW.
Sie werden im Einvernehmen und nach den Wünschen der Wehrmachtsteile in ihrer Auswirkung mit den Operationen des Heeres und der Luftwaffe zeitlich und örtlich in Übereinstimmung gebracht werden.
gez. Adolf Hitler
Für die Richtigkeit der Abschrift: Zeitzler Oberstleutnant des Generalstabs